Renate und ich gehen den Stadelwandgrat an. Es ist Renates erster IIIer. Der Grat und die leichte Kletterei passen goldrichtig dafür. Was soll da schon schief gehen? In der Früh und beim Zustieg geht es Renate gar nicht gut. Ihr ist ein bisserl übel, der Magen will nicht bergsteigen! Aber sie will die Tour probieren. Schauen ma a mal!
Wir packen das 40m-Seil ein. Das ist ein bisserl kurz. Wir könnten natürlich auch das 60er mitnehmen. Aber das wäre ein bisserl schwer. So könnten wir auch ein 50m-Seil kaufen. Aber das wäre dann ein bisserl blöd.
Irgendwann muss man im Stadelwandgraben nach links abbiegen. Das kann man weit unten machen und sich dann eines steilen Schotterfeldes erfreuen oder weiter oben. Meist biege ich zu früh ab. So auch diesmal. Aber es ist nicht so schlimm, denn ich denke, es gilt: „Je weiter oben umso besser.“. Aber wer will schon zu weit gehen? Egal, beim Abstieg sehen wir auf 910m Seehöhe Markierungen an einem Baum. Gernot hat sich auch schon mal die 910m auf der Uhr fotografiert. Das Wegerl probiere ich jedenfalls das nächste Mal.
Das Gassl ist nach den irrwitzigen Regenmengen der letzten Tage und Wochen eigentlich in gutem Zustand. Keine Sorge! Der folgende Aufstieg hat jedes Mal bessere Markierungen. Vielleicht liegt es daran, dass ich den Aufstieg immer besser kenne. Aber selbst in der Kletterstrecke sind auffällig viele rote Punkte. Diese sind mir bislang gar nicht aufgefallen. Hat da wer nachgebessert? Alles wird besser.
Wie üblich folgen wir in entgegengesetzter Richtung dem markanten roten Pfeil und erreichen nach leichter Kraxelei die Anseilstelle. Schon wartet der erste Turm, der heute wieder einmal ein bisserl schwieriger erscheint. Renate schlägt sich tapfer. Dann wird abgeklettert zum ersten richtigen Stand. Von dort geht es gleich wieder scheinbar schwierig bergauf. All das muss Renate Respekt einflößen, aber sie kommt stets brav hinten nach. Der weitere Verlauf ist immer wieder spannend, aber stets machbar.
Die IIIer-Stelle laut Topo liegt Renate im Magen. Erst wollte sie vor dieser Stelle überlegen, ob sie die Stelle angehen will und dann im weiteren Verlauf der Kletterei war sie sicher, dass sie sie umgehen möchte. Aber ich bin ja vorne. Und als erster nehme ich die IIIer-Stelle in einer der Seillängen gleich mit. Uh, die Stelle gehe ich heute weiter rechts an, wo ein Haken aus der Wand schaut. Also, da fehlen irgendwie Griffe und Tritte für unser Können. Die letzten Male war ich ein, zwei Meter weiter links und dort ging es leichter. Trotzdem komme ich sicher über die Stelle und hole Renate nach.
Sie ist schnell da und steht jetzt unter dem Haken in der IIIer-Stelle. „Also, ich steh‘ jetzt an! wie soll ich da rauf kommen?“. „Immer dem Schnürl nach!“ ist meine beliebte Antwort, zur Unterstützung spanne ich das Seil ein bisserl. Jetzt tut sich lange nichts. Gelegentlich gelingt es mir, wieder ein paar Zentimeter das Seil weiter einzuziehen. Die Arme muss ja schon im Klettergurt hängen. Und dann taucht sie plötzlich auf, zuerst der Helm und dann immer mehr von ihr. „Boah, was war denn das jetzt?“. „Na, vielleicht haben wir schon, ganz ohne es zu bemerken, die IIIer-Stelle mitgenommen?“. „Sicher nicht, die kommt erst! Und sicher ist, die gehe ich nicht!“. „Oh ja, das war schon die IIIer-Stelle!“. „Was echt jetzt?“. „Ja!“.
Jetzt fehlt nur noch eine Stelle mit III-. „Spreizschritt“ erwähnt die Topo dazu. In meiner Erinnerung ist das aber eine wahrlich nicht schwere Stelle. Was allerdings in Renates Kopf vorgeht, kann ich nicht sagen. Jedenfalls steige ich vor, überwinde den Spreizschritt ohne sonderliche Aufmerksamkeit. Den nächsten Stand baue ich ums „Eck“ bei einer kräftigen Latsche. Von Renate höre ich derart nichts. Aber das Seil rutscht fein durch meine Sicherung. Sie kommt näher, bis es plötzlich stockt. Das ist nicht ungewöhnlich. Ich warte. Nix tut sich. Ich warte. Minuten, echte Minuten vergehen. Ich warte, ich rufe: „Alles okay?“. Keine Antwort! Ich fixiere den Stand und steige ihr entgegen. Nun bin ich in Rufweite. Renate steht vor dem Spreizschritt und weiß nicht weiter. Sie will mehr Seil. Anscheinend habe ich sie von oben mit meinem Probeziehen immer weiter nach vorne gezogen, und nun ist die Lage misslich. Ja, das auch, aber selbst mit mehr Seil weiß sie eigentlich nicht, wie sie darüber soll. „Nach links absteigen und drüben wieder rauf!“ rufe ich noch. Dann mache ich mich zurück zum Stand, um ihr mehr Seil geben zu können. Diesmal geht etwas weiter. Etwas erschöpft und fertig steht Renate vor mir. Sie war wirklich ratlos, hat das Offensichtliche nicht gesehen und sich nur gewundert, wie ich da rüber bin. Na ja, dass ich mit meiner Hüftprothese, zwei lädierten Knien nicht wie eine Katze gesprungen bin, sollte eigentlich offenkundig sein. Renate meint, dass sie sogar an die Bergrettung gedacht hat. Das wäre ein lustiger Einsatzbericht geworden: „Die gut ausgerüstete 54-jährige, die am Stadelwandgrat unterwegs war, kam bei einem Spreizschritt in eine brenzlige Lage und konnte weder vor noch zurück. Die zu ihr aufgestiegenen Bergretter sicherten die bereits leicht erschöpfte Bergsteigerin bei einem Schritt galant durch Reichen der Hand, ehe diese selbständig ihre Bergtour mit ihrem Partner, der wenige Meter oberhalb von ihr an einer Latsche gesichert, beim Handyschauen aufgefunden wurde, fortsetzen konnte.“. Auch ein Hubschraubereinsatz wäre fein gewesen. Es hätte ja gereicht, wenn sich Renate kurz am herunterhängenden Bergehaken festhalten hätte können, ehe sie sich mit einem „Danke und Tschüssi!“ verabschiedet hätte. Ging aber auch so, mit Geduld!
Nach diesem eigentlich eher unspektakulären Spreizschritt geht es dann nur noch in flacher werdendem und einfachem Gelände weiter. Ein Grat ist noch dabei. Auch wenn das technisch einfach ist, sichern wir weiter. Da ist eine von uns beiden schon ein bisserl über das Maß des Erwarteten hinaus müde. Vergnügt und zuversichtlich, aber eben doch gefordert. So schaffen wir noch eine Seillänge gesichert, ehe wir ungesichert den letzten Anstieg nehmen und über die Märchenwiese zur Forsthütte absteigen. Jippieh, geschafft und Gratulation an Renate.
Nach Jause und Nachbesprechung geht es wieder durch den Stadelwandgraben zum Auto. Nach den Anstrengungen zieht sich der Abstieg ein bisserl sehr. Aber was soll’s? Geht ja alles vorbei!
Besten Dank an meine tolle Begleiterin!